INTERVIEW – Wencke Hlynsdóttir, Vorsitzende der GEW Weser-Ems, zu schwachen Pisa-Ergebnissen
Die schwachen Ergebnisse der jüngsten Pisa-Studie für 15-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland bestätigen die Bildungsgewerkschaft GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) in ihrer Kritik an Schwachstellen des Schulsystems. Wencke Hlynsdóttir, Vorsitzende des GEW-Bezirksverbands Weser-Ems, hat der Redaktion drei Fragen dazu beantwortet.
Frage: Wie bewertet die GEW das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in der aktuellen Pisa-Studie, die auch als „zweiter Pisa-Schock“ nach 2001 bezeichnet wird?
Wencke Hlynsdóttir: Von einem „Pisa-Schock“ wie 2001 kann dieses Mal niemand ernsthaft sprechen. Die damals anfängliche Reformdynamik, die Förderung der frühkindlichen Bildung beispielsweise, die Ausweitung von Ganztagsangeboten oder die Unterstützung sozial benachteiligter Gruppen hat nach kurzen Erfolgen an Fahrt verloren. Vor dem Hintergrund eines eklatanten Mangels an Schulsozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Therapeut*innen und Lehrkräften sowie eines chronisch unterfinanzierten Bildungsetats sind die aktuellen Pisa-Ergebnisse die Quintessenz aus der verfehlten Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte – parteiübergreifend im Übrigen. Unsere Kinder und Jugendlichen trifft es am härtesten, obwohl der Fehler im System liegt. Allein das ist ein Skandal. Dass sich die Abhängigkeit des schulischen Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft nicht verringert hat, ist eine schulpolitische wie soziokulturelle Bruchlandung.
Frage: Sind die Abordnungen von Lehrern der Gymnasien oder Oberschulen an Grundschulen ein Instrument, um bereits auf Grundschulebene Probleme zu lösen, bevor sie zu Problemen werden?
Wencke Hlynsdóttir: Alle Maßnahmen zur Verbesserung der Unterrichtsversorgung an Grundschulen durch das Instrument von Abordnungen sind lediglich kurzfristige Brandlöscher. Hier geht es primär um die Aufrechterhaltung der Unterrichtsversorgung und Verlässlichkeit. Pädagogische Aspekte sind sekundär. In der pädagogischen Praxis ist den Grundschulen mit Abordnungen mit wenigen Stunden kaum geholfen, selbst wenn die Fachlichkeit gegeben ist. An der Grundschule stehen Fächer wie Mathematik und Deutsch in der Regel jeden Tag im Stundenplan. Eine Mathematiklehrkraft, die mit sechs Stunden an zwei Tagen an die Grundschule abgeordnet wird, nützt nicht wirklich. Des Weiteren ist die Grundschuldidaktik des Erstlese- oder Mathematikunterrichts nachgewiesene Fachexpertise ausgebildeter Grundschullehrkräfte. Auch an dieser Stelle liegt der Fehler im System und nicht bei den Kolleg*innen der weiterführenden Schulen, die sich mit viel Engagement der auch für sie herausfordernden Situation stellen.
Frage: Was müsste an den Schulen geschehen, um wie nach dem ersten „Pisa-Schock“ spürbar schnell das Ruder herumzureißen?
Wencke Hlynsdóttir: Leider wird weder „spürbar“ noch „schnell“ etwas passieren können. Zu vielschichtig und vielseitig sind die Probleme, die angegangen werden müssen. Der Lehrkräftemarkt ist leer gefegt.
Kurzfristig soll jetzt zusätzliches Personal die Lehrkräfte unterstützen. Das ist nachvollziehbar und richtig, allerdings darf der Qualifikationsaspekt dabei nicht verloren gehen. Kultusministerin Hamburg hat die hanebüchenen Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) zu Beginn dieses Jahres, wie beispielsweise die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung oder höhere Klassenfrequenzen, nicht ernsthaft erwogen. Denn das würde das ohnehin an der Belastungsgrenze arbeitende Schulpersonal weiter strapazieren. Dabei muss dafür Sorge getragen werden, dass alle Beschäftigten im Schulsystem gesund erhaltende Arbeitsbedingungen vorfinden, die ein Arbeiten in Vollzeit bis zum Ruhestand ermöglichen. Die GEW hat hier durchaus Ideen!
Christoph Hinz