Corona Virus – Ein Bildungssystem mit Vorerkrankungen ist stark gefährdet

Es ist traurig: Die aktuelle Krise und das Homeschooling verstärken im Bildungssystem existierende Benachteilungsstrukturen. Auch wir Lehrkräfte leisten einen Beitrag dazu. Die sozialen Problemlagen, Lernschwierigkeiten etc. werden durch uns oftmals kultura-lisiert. Daher befasst sich dieser Artikel mit den bildungspolitischen Folgen eines Corona-Rassismus. Wie bitte?

Geht es nicht um ein Virus, das weder Geschlecht, Abstammung, […], Sprache, Heimat, Hautfarbe, Religion noch Bildungstand kennt? Diese Aussage ist falsch. Bereits zu Beginn der Epidemie zeigte es sich, dass dieses Virus auch Gedanken infizieren und sich wie eine Ideologie ausbreiten kann. Von Februar bis April fanden bundesweit gegen „asiatisch“ aussehende Menschen in Deutschland über 100 rassistische Anfeindungen („Virusschleuder“) und Angriffe mit Corona-Bezug statt.

Als Fachberater bin ich an verschiedenen Schulen tätig. Anfang März wurde ein Schüler aus Fernost an einer Sek I Schule angemeldet. Trotz sorgfältiger Vorarbeit der Lehrkraft erfuhr dieser Schüler auf dem Pausenhof Anfeindungen. Er musste sich anhören, dass er ein „Stück Corona“ oder ein„Coronakid“ sei. Eine Sensibilisierung durch eine Lehrkraft entspannte in der Lerngruppe die Situation. Die Schüler*innen gaben an, sie seien sich der stigmatisierenden Tragweite ihrer Aussagen nicht bewusst gewesen. Das sei für sie eine natürliche Reaktion gewesen. Schließlich komme das Virus aus Asien und die Menschen dort würden „alles Mögliche fressen“ . Es sei also kein Wunder, dass sich die Krankheit ausbreite. Die Gleichung, die dieser Auffassung zu Grunde liegt, ist folgende: „Asiat“ = Corona-Virus = Krankheit.

Eine andere Kollegin berichtete mir, dass in den Familienkreisen ihrer Schüler*innen zur Zeit per Whatsapp Bilder von verschleierten Frauen in Burka weitergeleitet werden. Die Kommentierung dazu lautet: In Corona-Zeiten sei endlich „der wahre Zweck der Burka“ erkannt worden. 

Ist das Rassismus? Oder einfach nur dämlich? Aber was soll daran rassistisch sein?
Die äußerlichen Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde sind leicht zu erkennen. Die zugrundeliegende genetische Variation selbst ist jedoch nur in ganz geringem Maße ausgeprägt. Daher ist die Idee, dass menschliche Populationen sich in genetisch bedingten Merkmalen von sozialem Wert unterscheiden, so dass bestimmte Gruppen gegenüber anderen höher- oder minderwertig sind, ein Aberglaube.

Aber ob beabsichtigt oder nicht: Jede Form von Benachteiligung verursacht immer Schmerz. In der Schule sind Heranwachsende betroffen, die sich in einem Entwicklungsprozess befinden. Die Schüler*innen im Beispiel oben haben bewusst oder unbewusst ihre Mitschüler*innen aufgrund ihres /r Aussehens/Herkunft selektiert und diskriminiert.

Und in vielen Fällen verstärkt unser Verhalten, das der Lehrkräfte, dies auch.  Auch für uns spielt nicht nur das Leistungsprinzip eine Rolle, sondern auch wir bewerten unbewusst nach sozialen Kategorien. Dies können die faktische oder zugeschriebene Herkunft oder sozioökonomischen Gegebenheiten sein – sie werden kulturalisiert. Unsere Vorurteile festigen die Ungleichheitsstrukturen.

Die Sozialisationserfahrungen der Kinder und Jugendlichen leiten sich aus den Erfahrungen in der Familie, Schule etc. ab. Auch unsere Gesellschaft hat ein Rassismus- oder Ungerechtigkeitsproblem. Daraus ziehen wir jedoch kaum Konsequenzen. In der aktuellen Situation bezüglich des Homeschoolings zeigt sich, wie sehr die Schule auf die häusliche Unterstützung der Eltern im Lernprozess angewiesen ist. Die Schule hat faktisch einen Teil des Lernprozesses in das Häusliche übertragen. Die Akademikerkinder entfernen sich auf diese Weise immer weiter von ihren Mitschüler*innen. Schon vor der Krise haperte es an der funktionierenden Kommunikation zwischen Lehrkräften und Eltern, besonders bei denen von sozial benachteiligten Kindern.

In der aktuellen Krisen-Zeit treten manche Mängel im Schulsystem jedoch stärker ans Licht. Jede Krise bietet aber auch neue Chancen. Denn wir Lehrkräfte zeichnen uns auch durch eine hohe Flexibilität aus. Trotz gebotener physischer Distanz schaffen wir vielleicht in verkleinerten Lerngruppen eine größere pädagogische Nähe als bisher in größeren Lerngruppen möglich war. Möglicherweise erkennen wir die wesentlichen Förderschwerpunkte, wirken den Benachteiligungsstrukturen entgegen und bieten unseren Schüler*innen eine angemessenere und professionellere Dienstleistung.

Bahattin Aslan ist Lehrer in der Sek I und ehemaliger Antirassismusbeauftragter der Universität Oldenburg