Was der neue OECD-Bildungsbericht für Deutschland bedeutet und warum die guten Nachrichten darin schwerer wiegen als die schlechten.
DIE OECD hat ihren jährlichen Bericht “Bildung auf einen Blick” veröffentlicht. Anhand der Zahlen, Statistiken und Analysen könnte man für Deutschland ohne Weiteres einen Artikel über die Bildungskrise und die schwerwiegenden Probleme schreiben, von denen viele auch mit den Migrationswellen der vergangenen zehn Jahre zusammenhängen. Ein solcher Artikel würde gut in die Zeit passen. Und doch würde er an der wichtigsten Erkenntnis der wieder einmal fast 500 Seiten (so viel zum OECD-Verständnis von “auf einem Blick”) vorbeigehen. Denn tatsächlich zeigt der Bericht für Deutschland vor allem eines: eine große demografische Chance.
Ja, der Anteil der 24- bis 35-Jährigen in Deutschland ohne Abitur oder Berufsausbildung ist zwischen 2016 und 2023 gestiegen und liegt mit 16 Prozent jetzt über dem OECD-Schnitt von 14 Prozent. Dieser Anstieg ist vor allem auf den höheren Anteil junger Männer zurückzuführen, von denen 2023 rund 18 Prozent keinen sogenannten Sekundarstufe-II-Abschluss hatten, im Gegensatz zu 15 Prozent bei den Frauen (2016 gab es noch keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern). Und ja, dieser höhere gesellschaftliche Männeranteil hängt vor allem mit der verstärkten Einwanderung jüngerer Männer mit wenig formaler Bildung zusammen.
Dass Jungs und junge Männer sich seit Jahren zur Risikogruppe im Bildungssystem entwickeln, und zwar über Deutschland hinaus, zeigen die neuen Statistiken ebenfalls eindrücklich. “Fast allen vorliegenden Indikatoren zufolge erzielen Mädchen und Frauen bessere Bildungsergebnisse als Jungen und Männer, und in vielen Fällen vergrößert sich der Abstand”, meldet die OECD. Hier muss die Bildungspolitik Antworten finden, um den gesellschaftlichen Sprengstoff von morgen zu entschärfen.
Genauso auffällig ist, dass Frauen trotz im Schnitt höherer Bildungsabschlüsse OECD-weit eine schlechtere Beteiligung am Arbeitsmarkt erreichen, auch in Deutschland, wo beispielsweise nur 86 Prozent der Frauen mit Hochschul- oder vergleichbarem Abschluss erwerbstätig sind, aber 92 Prozent der Männer. Vom Gehaltsgefälle ganz abgesehen.
Auch dass, wie die OECD schreibt, “trotz der umfangreichen Investitionen” 2022 nur noch 93 Prozent der 3- bis 5-Jährigen eine Kita besuchten statt 96 Prozent 2013, ist nicht gut. Zumal es vor allem sozial benachteiligte Kinder sind, die gar nicht oder später in Krippen und Kitas betreut werden. So besuchten nur 22 Prozent der Unter-3-Jährigen aus armen Familien eine Krippe – im Vergleich zu den 33 Prozent über alle Einkommensgruppen hinweg. Auch hier spielt die Einwanderungsgeschichte eine Rolle.
Erstaunlicher Kindersegen
Und wie ist das jetzt mit der demografischen Chance? Ganz einfach: In keinem anderen OECD-Land ist die Zahl der Kinder so gestiegen wie in Deutschland. Es gibt heute 18 Prozent mehr Kinder zwischen drei und fünf als 2013. Ja, das drückt auf die Kita-Teilnahmequote und schafft Ungerechtigkeiten, aber die Politik hat gehandelt und die öffentlichen Ausgaben für frühkindliche Bildung zwischen 2015 und 2022 massiv erhöht, ausgedrückt über den Anteil an der Wirtschaftsleistung um 42 Prozent – im Vergleich zu neun Prozent im OECD-Schnitt. Und eine Kitaquote von 93 Prozent bei den 3- bis 5-Jährigen liegt immer noch deutlich über dem, allerdings gestiegenen, internationalen Schnitt von 83 Prozent.
Das sind alles sehr gute Nachrichten für eine alternde Gesellschaft, und sie zeigen, wie wichtig für den Erhalt der sozialen Sicherungssysteme neben einer über Jahre deutlich gestiegenen Geburtenquote (die leider zuletzt wieder zurückging) die Zuwanderung junger Familien war.
Großartig inmitten der deutschen Modernisierungskrise ist zudem, dass es zwar mehr junge Menschen ohne Sekundarstufe-II-Abschluss gibt, aber einen noch stärkeren Anstieg bei den 25- bis 34-Jährigen mit Hochschulabschluss. Auch hier setzt sie sich fort, die Erfolgsgeschichte junger Frauen, denn laut OECD hat sich in Deutschland nur innerhalb einer Generation der Anteil von Frauen mit mindestens einem Bachelorabschluss verdoppelt. Jetzt kommt es aber darauf an, ihr Potenzial auf dem Arbeitsmarkt stärker zu nutzen.
Und auch hier ist es wieder die Einwanderung, die für Deutschland zur zusätzlichen demografischen Chance wird: Die Bundesrepublik war zwischenzeitlich das drittbeliebteste Gastland für internationale Studierende weltweit und, wie der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz Udo Michallik am Dienstag ausführte: “51 Prozent der internationalen Studierenden wählen ein MINT-Fach, wodurch Deutschland vor Finnland und Schweden liegt.”
Gegen das derzeit gängige Narrativ
Selbst der hohe Anteil formal schlecht gebildeter junger Männer bietet noch eine Gelegenheit, denn auch wenn es dem derzeit gängigen Narrativ widersprechen mag: Die meisten von ihnen wollen arbeiten, sich einbringen, leisten. Als Gesellschaft sollten wir sie dabei unterstützen.
Einen sehr konstruktive Perspektive unter den vielen Kommentatoren des OECD-Berichts nahm hier am Dienstag der Deutsche Lehrerverband ein: Deutschland habe seit 2015 durch den Syrien-Krieg zahlreiche Jugendliche aufgenommen, “die als Flüchtlinge im Teenageralter ohne Deutschkenntnisse und mit kriegsbedingter Bildungs- und Fluchtbiographie kurzfristig in ein darauf unvorbereitetes Schulwesen integriert werden mussten.” Trotzdem hätten insbesondere die Lehrkräfte an beruflichen Schulen in dieser Zeit mit Integration und Sprachförderung sehr viel geleistet und viele Jugendliche zu einem beruflichen Abschluss geführt –o bwohl die beruflichen Schulen schon da durch den langanhaltenden Lehrkräftemangel belastet gewesen seien. “Für die Lebens- und Bildungschancen dieser jungen Leute, die heute ohne Abschluss im Sekundarbereich II sind, braucht es weiterhin gezielte Förderprogramme, auch angesichts des großen Fachkräftemangels. Hier sind auch die Arbeitgeber gefordert. Begleitende Bildungsmaßnahmen in niedrigqualifizierter Arbeit und Mentorenprogramme sind auszubauen.”
Erste Schritte sind getan, Deutschland hat, wie die OECD bescheinigt, massiv in Bildung investiert, so dass die Bildungsausgaben gemessen an der Wirtschaftsleistung von 4,2 auf 4,6 Prozent stiegen. Doch auch wenn die absoluten Pro-Kopf-Beträge im internationalen Vergleich bereits relativ hoch sind, da muss noch mehr gehen in einem reichen Land – mindestens bis der OECD-Schnitt von 4,9 Prozent erreicht ist.
Vor allem die Ausgaben für die Kitas und Grundschulen müssen weiter stark wachsen, damit endlich auch pro Kind mehr übrigbleibt. Die vielfach geforderte flächendeckende Einführung verbindlicher Sprachtests, die im Bedarfsfall einen Kitabesuch verpflichtend machen, ist wichtig (siehe hierzu auch die jüngsten Ergebnisse des ifo-Bildungsbarometers) – wird allerdings nur funktionieren, wenn die Kitas entsprechend ausgestattet und die Fachkräfte regelmäßig geschult werden. Dazu braucht es auch auf Seiten der Einrichtungen verbindliche Standards: in Sachen Ausstattung und Pädagogik.
Die Bildungsfinanzierung steht auf dem Kopf
Die Realität: Gerade erst hatten 300 Fachleute in einem Offenen Brief an die Ampel vor den weitreichenden Folgen von Personalmangel und überfüllten Gruppen für Wohlergehen und Entwicklung schon von Krippenkindern gewarnt. Und der Entwurf des neuen Kita-Qualitätsentwicklungsgesetzes von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) schreckt vor der Setzung von Standards zurück.
Hinzu kommt: Im Augenblick steht die deutsche Bildungsfinanzierung auf dem Kopf, wie die OECD-Analyse einmal mehr zeigt: Für ältere Schüler, den Sekundarstufe-II-Bereich, wird deutlich mehr aufgewendet als für Grund- und Mittelstufenschüler, obwohl die meisten Bildungschancen in den ersten Lebensjahren verteilt werden.
Der parlamentarische Staatssekretär im BMBF, Jens Brandenburg, verwies am Dienstag auf das gerade begonnene “Startchancen-Programm” für benachteiligte Schulen und Schüler, in das Bund und Länder innerhalb von zehn Jahren 20 Milliarden Euro investieren. Es sei der “Einstieg in die notwendige bildungspolitische Trendwende. Mit dem Startchancen-Programm investieren Bund und Länder gemeinsam in erfolgreiche Bildungsbiografien, in Fachkräfte von morgen.”
Das Potenzial ist im Land, Politik und Gesellschaft müssen nur wählen: Entscheiden sie sich, die Veränderungen der Bevölkerungsstruktur vor allem als Problem und Gefahr zu sehen, als Ausrede für die auch in der Bildung nicht wegdiskutierbaren Krisensymptome? Oder sind sie bereit, hinter allen Problemen die Chancen zu erkennen? Der OECD-Bericht macht Mut zu letzterem.